code flow - events

Digitaler Dachstock #2

luncheon on the grass - postproduction by code flow

ein Projekt von code flow (Dimitrina Sevova & Alain Kessi)

Kuratorin: Martina Weber

17. August -19. November 2006

im Digitalen Dachstock des Haus für Kunst Uri

(das Museum bleibt vom 25. September bis zum 20. Oktober geschlossen)

Artists' Statement von code flow

Auf ihrer stetigen Suche nach mehr Realität und Natur haben code flow zwei neue Videoarbeiten produziert, die sich auf den lokalen Kontext des Hauses für Kunst Uri beziehen, in welchem der Digitale Dachstock stattfindet. Die beiden Filme wechselwirken mit Mythen und der Art und Weise, wie diese hergestellt und erfunden werden, sowie mit tradierten Rollen und deren performativen Aufhebung. Sie erkunden, was mit Natur und Realität passiert, wenn sie durch die Allgegenwart der Technologien verbreitert werden. code flow geht hinaus in die Natur, wie die Künstler Ende des 19. Jahrhunderts. Künstler und Künstlerinnen, die heute dieser Geste folgen, um neue Kreativität, künstlerische Freiheit und Eingebung für neue Themen zu suchen, finden sich konfrontiert mit Stereotypen, Zeichen, Zitaten, Gedächtnis, und Information im Zeitalter digitaler Reproduktion. Er oder sie bleibt unweigerlich in der Rolle des Touristen, des Konsumenten von Bildern durch Clichés, der kommt, sieht und sich bestehende Eindrücke aneignet, um sie in einem Prozess der Postproduktion zu neuen Bildern zu remixen.

In luncheon on the grass – postproduction by code flow (DVD, 8’27’’; 2006) richtet code flow den Blick auf einfache Dinge der Landschaft, auf Grashalme, die sich fröhlich im Wind wiegen, jedes in seine eigene Richtung wachsend. Verse aus Walt Whitmans Grashalmen (verschiedene Ausgaben 1855-1897) scheinen auf,zu einem Soundstück, in welchem der zischende Wind und Kinderrufe sich vermischen mit dem Pathos von Rossinis Sinfonia aus seiner Oper Wilhelm Tell (1829). Dieser erste Teil fliesst über in die Sicht auf eine Wiese, auf welcher wir eine sehr vertraute Komposition erkennen, jene des Meisterwerks Edouard Manets, Frühstück im Freien (1862/63). In einer lässig-oberflächlichen Performance picknickt eine Frau in Businesskleidung, Damenhose und Jackett, einem Aufzug, der sie in einer Büroumgebung als gediegene Büroarbeiterin erscheinen liesse, im Gras mit einem Mann in Alltagskleidung. Vor ihnen ein Mann, nackt. Unsere Wahrnehmung wird getäuscht: ohne, dass irgendwer in irgendeiner Weise maskiert oder verkleidet wäre, rein aufgrund unserer Erwartungen an Geschlechterrollen in spezifischen Situationen, erscheinen uns in dieser Umgebung die Frau in Businesskleidung und der nackte Mann so, als spielten sie die Rolle eines Mannes und einer nackten Frau. Die Wahrnehmung des Betrachters vertauscht ihre Rollen. Die Performance spielt sich in einer künstlichen Geräuschkulisse ab, mit einem Fragment eines Duetts aus Wilhelm Tell, in welchem die angeblichen Feinde Mathilde und Arnold ihre romantische Liebe erklären – derweil der mythisch-heroische Tell seine Liebe zum verlorenen Vaterland besingt.

Unser zweites Videostück altdorf sightseeing tour – your guide: code flow (DVD, 13’56’’; 2006) widerspiegelt unsere Doppelrolle nicht nur als KünstlerInnen auf der Suche nach Eingebung, sondern auch als neugierige TouristInnen zu Besuch in Altdorf. Der Film spielt mit der Geste des Künstlers, der in die Natur hinaus geht, eine Geste, die sich nach wie vor grosser Beliebtheit erfreut in der zwangsweisen Fotografie banaler Blickwinkel, wie sie für den zeitgenössischen Tourismus typisch ist. Ein Auszug aus dem Film Jenseits der Wolken (1995) von Michelangelo Antonioni und Wim Wenders knüpft an die Verwirrungen des ersten Videos mit Geschlechterstereotypen und den Erwartungen des Betrachters an. Der Glanz und Nimbus des männlichen Schöpfers, der an der Natur auf seiner Leinwand pinselt, werden heruntergerissen, und er erscheint als erbärmlicher alter Imitator der Gesten anderer. Die Dame, die aus der Natur erscheint, wird nicht seine romantische Muse, sondern stellt sich als alte Giftnudel heraus, die ihr Maul nicht halten kann. In der darauf folgenden Diaschau drehen wir die Rollen um und dienen den Ansässigen und anderen MuseumsbesucherInnen als TouristenführerInnen, in einer Imitation des touristischen Blicks. Im Zeitalter der Bilder, wie es von Susan Sontag in ihrem Buch Über Fotografie (1977), und umso mehr mit der Entwicklung des Tourismus, die mit den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen einherging, finden sich die meisten Leute oft, üblicherweise auf Wochenendausflügen oder im Urlaub, in Situationen, in denen sie versuchen, mit der obligaten Digitalkamera in ihrer Hand umzugehen, oder zumindest mit der Kamerafunktion ihres Mobiltelefons. Dieser Bezug, dieser Blick, der bis anhin KünstlerInnen vorbehalten war, was passiert mit ihm, wenn sie auf jeden ausgeweitet werden, der eine digitale Kamera in der Hand hält? Und wie beeinflusst diese Zugänglichkeit, dieser Populismus in der Herstellung von Bildern und digitalen Reproduktionen, eine neue künstlerische Vorgehensweise im Umgang mit digitalen Technologien? Im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit, der DJs und Remixes, des Zitierens des Zitats des Zitats, im Zeitalter der Postproduktion gibt es keine Kopie und kein Original.

Artist's Statement von Dimitrina Sevova

Eine kurze Retrospektive mit ausgewählten Videoarbeiten von 1997-1999 mit einem Bezug zur Körperpolitik.

sex male sex female (remastered auf DVD, 9’17’’; 1997)

Der Film betrachtet das neue Phänomen der Schönheitsindustrie im postsozialistischen Bulgarien, in welcher die Sehnsucht nach immerwährender Jugend und der Traum vom standardisierten Körper zur konvertierbaren Ware wird, die Änderungen in den ästhetischen Kriterien für den Körper, und dessen Resozialisierung im neuen städtischen Raum. Zwei sehr einfach geschnittene Dokumentarspuren, parallel projiziert, zeigen einige der ersten Fitnesszentren und Schönheitssalons, die zu jener Zeit noch sehr unprofessionell wirken, vor einer Geräuschkulisse, die aus kommerziellen pornografischen Videos geklaut war.

merry-go-round (remastered auf DVD, 4’53’’;1998)

Das Leben im Schwindelzustand, alles dreht sich, auf der Suche nach Identität, der Versuch, aus Fragmenten von Eindrücken schlau zu werden. Willkommen auf dem Karussell. Es ist gratis, doch du hast keine Wahl. Das Karussell verschafft dir ein magisches Erlebnis. Du brauchst nur brav und artig zu sein. Geniesse es nur und frag nicht warum. Wenn du viel denkst, wenn du mehr willst kann ich dir den Zauber nicht versprechen. Lass deine hohen Ideale zurück… und geniesse es einfach.

three short videoportraits (remastered auf DVD, 4’01’’; 1999)

erzählt eine durchschnittliche Geschichte und eine Familiensituation, wie sie für das postsozialistische Bulgarien typisch ist: drei Frauen, Mutter, Tochter und Enkelstochter leben zusammen in einer kleinen sozialistischen Vorstadtwohnung in einem Plattenwohnhaus. Der Film baut auf dem Subjektiven und dem persönlichen Zeitgefühl und der Geschichte ausserhalb des Kontexts grosser historischer und politischer Ereignisse. Drei verschiedene körperliche und geistige Konditionen des Seins. Drei Arten und Weisen, den letzten Momenten des Jahrhunderts zu begegnen.

Auf unseren Webseiten werden Sie mehr Arbeiten von code flow sowie Dokumentationen von Projekten finden, an denen wir aktiv teilgenommen haben: <http://www.code-flow.net>. Um Ihnen die Orientierung zu erleichtern, haben wir einige wichtige Einstiegspunkte für Sie zusammengestellt:

Sie können in unseren E-Texten blättern, und darunter speziell unsere drei Online-Bücher (die meisten Texte auf Englisch; nur einzelne auch auf Deutsch verfügbar):

CFront – Crossing Points East-West”,

KonsequenZ

und “Critique of Pure Image – Between Fake and Quotation”.

Wir hoffen auch, Sie für unser neues code flow museum begeistern zu können: code flow museum,

sowie für ein älteres Projekt, “Exchanging Places”.

Bitte lesen Sie auch Martina Webers Erklärung der Kuratorin.

Und beachten Sie die Links zu Online-Arbeiten von code flow.

Online Besprechungen dieses Projekts:

Digital Brainstorming Weblog: Wilhelm Tells digitale Reproduzierbarkeit (von general stumm)

clickhere.ch: Wilhelm Tells Reproduzierbarkeit und ein feministischer Rollentausch (von Villő Huszai)